GESCHICHTSVEREIN DILLENBURG e.V.
Dillenburg um 1840

In den 50ern

Ein Dank an Dr.K.L.Mootz,

dem Verfasser dieser Erinnerungen.

In der Freizeit stromerten wir öfters in der Stadt herum und kannten dort alle Winkel. Damals stand noch die Hintergasse mit ihren Seitengässchen, mit dem Schuster Hartmann, der, wenn er Schuhe benagelte, die Nägel dafür in seinem Mund hatte und bei Bedarf einen nach dem anderen mit der Zunge hervorschubste und verarbeitete. Direkt nach dem Krieg wurden die Schuhe mit Ausschnitten aus Fahrradreifen besohlt, dann gab es wieder Gummi- und Ledersohlen. Teilweise wurden die Laufflächen der Schuhe mit einer Vielzahl von Nägeln abgedeckt, die beim Gehen sofort erkennen ließ, dass diese Sohle langlebig war. Erst viel später gab es Kreppsohlen. Grundsätzlich wurden die Schuhe repariert und immer wieder neu besohlt. Damals wurde so vieles immer wieder repariert. Es gab in dem Quartier der Hintergasse auch einen Bäcker namens Krauss, er backt ein sehr leckeres "Bauernbrot" (Sauerteig), ähnliches kann man heute noch beim Bäcker Stoll in der Hauptstraße kaufen. Ihm gegenüber einen kleinen Lebensmittelladen der Frau Ruß

Im Zwingel


und natürlich viele einfache Wohnungen in den kleinen, alten Fachwerkhäusern. Hier wohnte man entweder traditionell oder aus finanziellen Gründen. Es war ein armer, aber sehr malerischer Stadtteil. Dieser Teil der Altstadt, er wurde Anfang der 70er Jahre abgerissen, er würde heute sicher unter Denkmalschutz gestellt. Ganz in der Nähe, im Zwingel, gab es auch das Fotogeschäft von Wilhelm Ax.
Am Gebäde war in großen Lettern zulesen:

RADIO FOTO KINO AX
Umkehr und Kopieranstalt
Tonstudio

Dort konnte man für 9,90 DM, für uns Kinder erschwinglich, eine Kamera mit dem Namen Agfa-Box kaufen. Es war ein Kasten, den man vor den Bauch hielt, durch einen Sucher sein Objekt ausmachte, die Luft anhielt und dann einen seitlichen Hebel nach unten drückte. Man durfte dabei nicht wackeln, weil sonst das Bild unscharf wurde. Es war eine 6 x 6 Kamera, in die noch Rollfilme eingelegt werden mussten. Es ist ein schönes Hobby, das man zeitlebens gern betreiben kann und das viele Erinnerungen konserviert, besonders wenn man sie beschriftet hatte. Am Abzweig der Marbach von der Hauptstrasse plätscherte der Obertorbrunnen. Dieser Brunnen diente u. a. dem SSV Dillenburg und seinen Gastmannschaften als Waschgelegenheit nach den Meisterschaftsspielen in der Zweiten Amateurliga Hessen. Die Marbach ist der älteste Teil Dillenburgs und liegt fast ein bisschen versteckt in einem bogenförmigen Tal seitlich von Schlossruine und Wilhelmsturm. Dort unten,

Hintergasse


Erbsengasse, Hintergasse, Krawallgasse, auf den Bohlen usw., die alle sehr eng, altmodisch, aber für uns sehr romantisch waren. Hier hatten die Nachbarn beste Einblicke in die Verhältnisse untereinander, man konnte fast jedes Wort des Anderen verstehen. Das besonders, weil jedes Stockwerk in seiner Fläche ein wenig weiter vorgebaut und damit vergrößert worden war. Je höher man kam, desto näher kamen sich die Stockwerke der Häuser. Warum? In der Zeit, als diese Häuser gebaut wurden, hatte der Hausbesitzer bemessen nach der Grundfläche des ersten Stockwerks Steuern zu entrichten. Also baute man die Fläche des zweiten Stocks etwas größer aus und so weiter. Es gab also auch damals schon Steuertricks. Am Zwingel, Hintergasse, in der Marbach und natürlich auf Hof Feldbach gab es noch Landwirte. Der wohl größte hieß Decker, wurde aber nur "Schlicher" genannt. Sein Vater hatte in der Oberstadt eine Metzgerei. Er aber betrieb seine Landwirtschaft und hatte fast als Einziger damals einen Bulldock. Am Lindenplatz besaß er einige Scheunen, an deren Toren er deutlich sichtbar vermerkt hat:

"Gewalt geht vor Recht. Bürger schützt das Recht vor der Gewalt"

Er hat zeitlebens einen Kleinkrieg mit der Stadt um die Abgabe seiner Besitzungen geführt. Die "Lösung" für eine neue Straßenführung ergab sich 1957 nach einer Brandstiftungsserie eines jungen Dillenburgers. Sie hatte die Scheunen sehr in Mitleidenschaft gezogen sodass an einen Wiederaufbau nicht zu denken war. Es gab aus heutiger Sicht eine Vielzahl von Handwerksbetrieben, Metzgereien, Bäckereien, Schuster, Schneider, Maler, Buchhandlungen und Schreibwarengeschäfte, wie die Firmen Richter, Aulmann und Jentsch, Schirm und Schuhgeschäfte, Schmuck- und Uhrläden, Cafés, Radio- und Fotogeschäfte. Die Markt- und Hauptstraße war eine einzige Aneinanderreihung von meist kleinen Geschäften. Nicht zu vergessen die Modehäuser Laparose, Mode Nordhaus, Textil Krämer und Betten Fischer, letztere zwei mit meist etwas rustikalem Sortiment. Daneben gab es auch noch das sehr große Modehaus König. Königs hatten vier Töchter. Als Auto besaßen sie einen Opel Kapitän, dessen Kofferraumklappe man nach hinten öffnen konnte. In dieser Klappe waren zwei Sitze für die "Kleinen" eingebaut. Es war ein köstliches Bild, wenn die Familie König ausfuhr und die beiden Zwillinge Ute und Mathilde in der offenen Kofferraumklappe saßen.

In der Marktstraße existierte noch das Textilhaus der Familie Braum, die über eine eigene Fertigung verfügten und alles anboten, was sich um Wolle drehte. Weiterhin gab es Ärzte, Rechtsanwälte, Apotheken, die Weinstube Schneider, Kaisers Kaffeegeschäft sowie Thans & Gaffs, wo man noch Rohkaffee kaufen konnte, diesen rösten und mahlen lassen konnte, Gemüsehändler, Konsum, Rheika, Molkereigeschäfte u. a. Fa. Bellinghausen, sie hatten auch eine Molkerei in Mademühlen, die Feinkostgeschäfte Jüngst und Pracht und viele Kneipen, Restaurants und Hotels.

Wilhelmsplatz Haus Zimmerschied

Es war bunt in Dillenburg und alle existierten recht gut oder irgendwie. Über jedes dieser Geschäfte könnte man eine Abhandlung schreiben und dabei deren Einrichtung, Angebot, Bedienungspersonal und Stil darstellen. Auf alle Fälle kauften und lebten die Dillenburger in ihrer Stadt. Nur die Gutbetuchten deckten sich in anderen Städten ein, man war heimatbewusst, weil noch nicht so mobil und deshalb zufrieden mit dem Angebot der Stadt. Dazu kamen die vielen Kaufwilligen aus den umliegenden Dörfern, dies war besonders an den weihnachtlichen verkaufsoffenen Sonntagen in der Dillenburger Innenstadt zu merken, die Straßen und Geschäfte waren über alle Maßen gefüllt. Außerdem hatte Dillenburg auch viele behördliche Einrichtungen und Banken, die rege benutzt wurden. Die Kneipen und Restaurants waren natürlich von besonderer Anziehung, dort traf man sich abends zum Stammtisch und tauschte die Neuigkeiten von Dillenburg aus. Je spektakulärer und sensationeller sie waren, um so besser. Ob sie der Wahrheit so ganz entsprachen, war damals wie heute nicht gleich kontrollierbar nachzuvollziehen, Hauptsache man wusste etwas "Tolles". Dass man bei diesen Treffen auch noch sein notwendiges Quantum Bier bekam, war eine herrliche "Begleiterscheinung". Dillenburg hatte auch Bankinstitute. Es gab die Nassauische Sparkasse und die Sparkasse Dillenburg sowie das Rentamt mit ehrwürdigen Einrichtungen in besonderem Stil und dazu passenden und entsprechend gekleideten Angestellten. Die Post an der Dill, in der Nähe des

Untertors war ein fast monumentaler Bau. (Schloß der Fürstin Nassau Dillenburg) Dort war auch das Telegraphenamt untergebracht, wo seinerzeit noch alle Ferngespräche handvermittelt wurden und wo sehr viele junge Mädchen Arbeit fanden. Despektierlich nannte man die vielen jungen, hübschen Damen, die hier arbeiteten "Drahtamseln".

Interessant war jedesmal der Besuch beim Friseur. Auch davon gab es mehrere. Man ging u.a. zu Voglers Bubi in der Hauptstraße. Zwei, manchmal drei Friseure ("Mennels Oswald", "der Italiener" oder "Bubi" selbst) bedienten die Kunden im Herrensalon. Man setzte sich auf eine Stuhlreihe und wartete bis man drankam. Während dieser Wartezeit erfuhr man alle Neuigkeiten aus der Politik, den neuesten Klatsch aus der Stadt, man wurde bestens über das Sportgeschehen (Schwerpunkt SSV Dillenburg) informiert, wobei sich die Gesprächspartner so richtig in Rage redeten und aufregten. Dann kam noch das Hobby des Angelns dran. Ein lustiges Gespräch ist mir gut in Erinnerung geblieben : Kunze Fritz ließ sich die Haare schneiden, als er von Voglers Bubi erfuhr, wie groß der Fisch war, den dieser am vergangenen Wochenende gefangen hatte. Es mußte in der Tat ein riesiges Exemplar gewesen sein. Nun wußten aber alle, daß der Bubi gern und oft übertrieb. Darauf berichtete Kunze Fritz, daß er bei seiner letzten Angeltour ein Riesending, wirklich ein Riesending gefangen hätte. Was hast du? Ja, ich habe ein Riesending, nämlich einen Kronleuchter aus dem Wasser gezogen. So, so. Ja Bubi und das tollste war, daß die Lichter noch brannten. Allgemeines Gelächter über diese unglaubwürdig provozierende Geschichte. Darauf aber meinte Fritz Kunz mit lachenden Augen: Gut Bubi, wenn Du Deinen Fisch 40 cm groß machst, dann mach ich die Lichter an meinem Kronleuchter aus. Es war immer etwas los in diesem Laden und wir zahlten für einen Haarschnitt 50 Pfennige.


www.geschichtsverein-dillenburg.de